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thema Reale Fiktionen
Negative Utopien
von Hajo F. Breuer
Ich fürchte weder Tod noch Teufel. Doch manchmal wird mir angst
und bange.
Grund dafür ist mein Lieblings-Literaturgenre, zu dem natürlich auch
negative Utopien gehören. Und von denen werden einige erschreckend wahr.
Den Begriff »Utopie« prägte der Heilige Thomas More (Morus;
geb. 1478), den Heinrich VIII. 1535 im Tower von London köpfen ließ.
Knapp 20 Jahre vor seinem gewaltsamen Tode hatte More das Werk »Utopia« verfaßt,
das als erster moderner Staatsroman und erstes Werk der nach ihm benannten
utopischen Literatur gilt. »Utopia« schilderte einen idealen Staat,
einen Gegenentwurf zur Realität der Renaissance.
Utopische Literatur, die sich statt mit der sozialen mehr mit der technischen
Entwicklung befaßte, hieß spätestens seit Jules Verne »Zukunftsroman« und
ein halbes Jahrhundert später meist »Science Fiction«, als
vor allem amerikanische Autoren das Genre dominierten.
Die Engländer hingegen legten weiterhin viel Wert auf die Schilderungen
zukünftiger Gesellschaftsformen. Einer der bekanntesten Vertreter der
Gattung ist sicher H. G. Wells (1866 - 1946), der mit Werken wie »Die
Zeitmaschine« oder »Krieg der Welten« Klassiker des Genres
schrieb. Aber in denen ist schon eine ganze Menge Pessimismus über die
zukünftigen Entwicklungen spürbar. Besonders deutlich wird das in
dem 1907 verfaßten Werk »Der Krieg in der Luft«, in dem Zeppeline
sich als unschlagbare Bedrohung erweisen und die ganze Welt in Schutt und Asche
legen. Ich bin während meines Studiums mit einem Anglistik-Professor ziemlich
aneinandergeraten, weil ich der Meinung war, daß jeder halbwegs klar
denkende Mensch 1907 schon hätte erkennen müssen, daß von Zeppelinen
niemals eine solche Gefahr hätte ausgehen können. Denn im Roman waren
sie nicht abzuschießen, in der Realität hingegen reichte es, die
Richtwinkel der Geschütze zu erhöhen, und gegen das 1907 durchaus
schon existierende Flugzeug erwies sich der Zeppelin als machtlos. Aber mein
Professor meinte, es wäre Wells vor allem darauf angekommen, den Niedergang
der Zivilisation zu zeigen, wie man schon an dem episch geschilderten Brand
eines Motorrads auf den ersten Seiten des Buches merken könne. Da hatte
der gute Mann selbstverständlich recht, aber auch ein Schriftsteller sollte
sich bemühen, seine Thesen nachvollziehbar zu begründen und nicht
einfach sagen: »Ich schreibe jetzt ein pessimistisches Buch«, wenn
er gerade wieder seine Depression nimmt.
Geschickter war da schon ein gewisser Eric Arthur Blair (1903 - 1950), der
unter dem Pseudonym George Orwell mit »1984« den absoluten Klassiker
aller negativer Utopien verfaßte. In dem von ihm geschilderten Zukunftsstaat
ist die Überwachung total, und selbst die Sprache der Menschen unterliegt
strengen Reglementierungen.
Und es scheint leider, als habe Orwell recht behalten. Wir finden es heute
völlig normal, im Straßenverkehr scharf überwacht zu werden.
Bundesfinanzminister Eichel plant die »Verkennzifferung« aller
wirtschaftlichen Vorgänge, um den Finanzbehörden die totale Kontrolle
zu ermöglichen. Ab April sollen die Finanzämter Zugang zu allen Konten
bekommen, und zwar so, daß die Banken davon nichts merken. Die technische
Infrastruktur dafür allerdings müssen die Banken und letztlich deren
Kunden zahlen, die somit ihre eigene Überwachung finanzieren.
Die Autobahnmaut in Deutschland wurde »nur für Lkw« eingeführt,
aber nicht mit Vignetten oder Zahlstellen, sondern über elektronische
Kontrollgeräte, mit denen sich jederzeit erfassen läßt, wer
gerade wo ist. Und nun werden die ersten Forderungen laut, diese Maut auch
für Pkw einzuführen. Dann kann der Staat über das satellitengestützte
System jederzeit erfassen, wer sich wo befindet.
Meine Hunde tragen schon – wie vom Gesetz vorgeschrieben – elektronische
Mikrochips im Körper, mit denen sie jederzeit identifiziert werden können.
Die Chips schaden ihnen nicht und würden auch von anderen Lebewesen problemlos
vertragen. Erste Versuche mit ihrer Anwendung beim Menschen laufen bereits.
Und technisch wäre es kein Problem, einen Menschen mit einem solchen Chip überall
und jederzeit zu orten bzw. sein Bewegungsprofil in Datenbanken zu speichern
und nach Belieben abzufragen.
Natürlich kann man sagen, daß so etwas einen gesetzestreuen Bürger
nicht stört. Aber zum einen ist zu fragen, wer die Gesetze zu welchem
Zweck macht. Zum anderen wird mit der totalen Kontrolle ein Zwang zum Gutsein
eingeführt, der den freien Willen des Menschen ignoriert. Selbst Gott
hat dem Menschen den freien Willen eingeräumt, gegen seine Gebote zu verstoßen
und zu sündigen.
Im Orwell-Staat aber soll uns diese Möglichkeit genommen werden. Das Antidiskriminierungsgesetz
mischt sich in die privaten Belange der Bürger ein und will sie dazu zwingen,
sich in einem bestimmten Sinne »richtig« zu verhalten. Sicher ist
es nicht nett, jemanden zu diskriminieren. Aber ein Zwang zum Gutsein ist noch
wesentlich weniger nett.
Auch das Orwellsche »Neusprech«, die regulierte Sprache, ist längst
in unseren Alltag eingezogen.
Warum »darf« ich einen Neger nicht mehr Neger und einen Zigeuner
nicht mehr Zigeuner nennen? Ich hatte mal einen Zigeunerfürsten zum Nachbarn.
Weil er ein wirklich netter Kerl war, wollte ich von ihm wissen, ob er nun
Sinti oder Roma sei. Seine Antwort war verblüffend: »Ich bin Zigeuner.«
Studenten heißen heute »Studierende«. Allerdings weiß ich
aus meiner eigenen Studentenzeit, daß längst nicht alle Studenten
Studierende waren. Das dürfte heute kaum anders sein. Weshalb also diese
Sprachvorschriften?
Richtig gruselig aber wurde es mir vor kurzem bei einem Blick ins Fernsehprogramm.
Da lief bei Tele 5 ein Film mit dem etwas dümmlichen deutschen Titel »IQ
Runner – Aufstand der Untermenschen«. Im Original heißt das
Werk von 1995 »Harrison Bergeron« wie die gleichnamige Kurzgeschichte
von Kurt Vonnegut (»Schlachthof 5«): Im Jahr 2053 sind alle Menschen
per Gesetz gleich. Wer zuviel Verstand hat, muß einen sog. »Nivellierungsring« auf
dem Kopf tragen. Titelheld Bergeron (gespielt vom »Herr der Ringe«-Star
Sean Astin) ist so klug, daß nur noch eine Gehirnoperation »hilft«.
Absolut übertriebene negative Utopie, meinen Sie?
Abwarten: Im Frühjahr 2005 wird in Nordrhein-Westfalen ein neues Schulgesetz
verabschiedet, das im Vorfeld schon dazu führte, daß die ehemalige
Schulministerin von NRW ihr Landtagsmandat zurückgab. Unter anderem soll
das Gesetz verhindern, daß deutsche Eltern ihre Kinder auf privat finanzierte
internationale Grundschulen schicken. Die Begründung: Chancengleichheit.
An den Privatschulen kommt ein Lehrer auf sieben Schüler, an den öffentlichen
Grundschulen sind Klassengrößen von über 30 die Regel. Nun
kann man es natürlich ungerecht finden, daß reiche Eltern ihre Kinder
auf bessere Schulen schicken können. Aber die einzige Möglichkeit,
echte Chancengleichheit herzustellen, wäre doch die, die öffentlichen
Schulen besser auszustatten. Doch getreu dem alten Sponti-Motto »Keine
Chance für niemanden« soll statt dessen der Besuch der besseren
Schulen schlicht und einfach verboten werden.
Das ist eine Chancengleichheit à la Harrison Bergeron: Wer zu schlau
ist, muß sich halt ein paar Gehirnwindungen wegschnippeln lassen. Wie
soll das noch weitergehen? Wie lange wollen wir noch weitermarschieren in einen
Staat, der uns genau vorschreibt, was wir zu tun und zu lassen haben und uns
rund um die Uhr überwacht? Früher habe ich negative Utopien wie die
von Orwell oder Vonnegut für reine Gedankenspielereien gehalten. Heute
sehe ich das anders.
Ich fürchte weder Tod noch Teufel. Doch manchmal wird mir angst und bange.
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