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Die Kolonie (2)
von Manfred Weinland
Erster Teil – Zweiter
Teil
Nelson Doty strauchelte. Er hatte Mühe, weiterzugehen. Goofy schien
es nicht zu bemerken. Er lief geradewegs auf die im Schatten einer Unterkunft
liegende Gestalt eines Wissenschaftlers zu.
Nelson überwand seinen Schrecken und folgte dem Freund.
Er sah noch andere Personen am Boden liegen, aber er fand nicht die Kraft,
sich allein zu einer von ihnen zu begeben.
Sie lagen da wie tot. Wie mitten in ihren Bewegungen von einer tödlichen
Kraft hinweggerafft!
Damit schien sich die schlimmste aller Befürchtungen zu bestätigen.
Aber was auf dem als harmlos geltenden Kontinent 13 war ihnen zum Verhängnis
geworden?
Auf ganz Hope gab es, von den Super-Piranhas abgesehen, die in bestimmten
Regionen von Main Island ihr Unwesen trieben, keine wirklich gefährlichen
Raubtiere...
... zumindest hatte man das bislang geglaubt.
"Er lebt!"
Goofys Stimme riß Nelson aus den sich überschlagenden Gedanken.
"Aber..."
"Aber?" Nelson trat hinter seinen Freund, der neben dem in grotesker
Stellung am Boden liegenden Wissenschaftler kniete.
"... er fühlt sich so... hart an."
"Hart?"
"Ja." Goofy richtete sich plötzlich auf. "Aber faß
du ihn nicht auch noch an. Faß keinen an. Es reicht, wenn ich..."
"Was ist hier passiert?" unterbrach ihn Nelson, der gegen die
aufsteigende Hysterie ankämpfte. Erst recht, als er in einiger Entfernung
die junge Frau neben einer Box mit persönlichem Gepäck liegen
sah, die wiederzutreffen er sich die ganze Zeit gefreut hatte.
Er erzitterte.
"Wenn ich das wüßte... vielleicht eine Krankheit, irgendein
Fieber... obwohl er sich kühl anfühlt..." Goofy huschte
zum nächsten Opfer. Nelson folgte ihm wie an einer unsichtbaren Leine.
Kraftlos, wie ausgepumpt.
"Ihr Herz schlägt ebenfalls", rief Goofy über die
Schulter. "Lauf zum Scout, Dott! Kontakte Deluge! Schildere ihnen,
was für eine Lage wir hier angetroffen haben. Sie sollen sofort Hilfe
schicken. Ärzte..."
Nelson starrte die Frau an, neben der Goofy kauerte. Sie hatte die Augen
weit aufgerissen. Darin schien ein unglaublicher Schmerz zu wogen.
Sie ist bei Bewußtsein!
Die Vorstellung, sie könnte hören und sehen, was um sie
herum vorging, sich aber nicht mehr mitteilen, steigerte sein Entsetzen
noch mehr. Auf dem Rücken liegend, hatte sie die Arme nach oben gestreckt,
wie flehend.
"Ist sie auch..." rann es über Nelsons Lippen, "... hart?"
"Ja, zur Hölle! Und jetzt spute dich endlich!"
Nelson erwachte aus seiner Benommenheit. Rasch wandte er sich einer Lücke
zwischen den Bauten zu, in die Richtung, in der die CC4 lag.
Als er in die Lücke eintauchte, hörte er Goofy noch einmal.
Diesmal rief er jedoch nicht, er schrie auf!
Nelson blieb wie gegen eine unsichtbare Wand geprallt stehen und drehte
sich um.
Irgend etwas schwebte hinter Goofy in der Luft. Transparente Flügel
schillerten in allen Farben. Ein wundervoller Anblick.
... bis deutlich wurde, daß eines von den Biestern sich in Goofys
Nacken niedergelassen hatte.
Ein kolibriähnliches Wesen, mit einem langen, rüsselartigen
Auswuchs, den es in Goofys Fleisch gebohrt hatte...!
Der Mann brüllte jetzt immer lauter! Er schlug um sich, führte
einen Veitstanz auf, doch seine Bewegungen erlahmten rasch. Nelson wollte
ihm zu Hilfe eilen. In diesem Augenblick bewegte sich der restliche Schwarm
auf ihn zu.
Im Weiterrennen sah er noch, wie Goofy zu Boden ging und in seinen Bewegungen
erstarrte...
*
Als die alarmierte Verstärkung endlich eintraf, wies auf der Lichtung
nichts mehr auf den Schwarm monströser, geflügelter Wesen hin,
die offenbar erst dem Wissenschaftsteam, dann Goofy zum Verhängnis
geworden waren. Der Schwarm tauchte auch während der ganzen Zeit
nicht mehr auf, in der die Opfer von speziell geschützten Rettern
geborgen wurden. Fast hatte es den Anschein, als hätten die Kolibriähnlichen
begriffen, daß sie gegen die Neuankömmlinge das Überraschungsmoment
nicht mehr ausspielen konnten und dementsprechend unterlegen wären.
Was eine Form von Intelligenz voraussetzte.
Intelligente Killerkolibris?
Nelson grauste es beim bloßen Gedanken. Er wußte nicht mehr,
wie er es im letzten Moment zurück in die CC4 geschafft und die Schleuse
hinter sich versiegelt hatte. Via Außenübertragung hatte er
dann noch eine Weile in die häßlich gezeichneten Fratzen der
Vogelartigen gestarrt. Lange hatten sie über der CC4 ausgeharrt;
erst als von Osten her ein ganzer Pulk weiterer Fahrzeuge herangeflogen
war, hatten sie sich zwischen die Urwaldriesen zurückgezogen. Seither
waren und blieben sie verschwunden. Zurück blieben nur ihre Opfer.
Nelson begleitete den Rettungskonvoi nach Deluge. Er steuerte die CC4
allein. Seine Gedanken waren nur bei Goofy, der sich im selben Zustand
wie die anderen noch Lebenden, aber von einer vollständigen Starre
Befallenen befand.
Noch gab es keine Toten zu beklagen.
Noch.
*
Auch zwei Tage später war die Situation der Opfer - fast - unverändert.
Geändert hatte sich nur ihr Befinden; es hatte sich verschlechtert.
Offenbar injizierten die "Kolibris" ein Gift, das nur die äußere
Hautschicht befiel. Es ließ sie verhärten, ohne dabei allerdings
die Sauerstoffaufnahme zu beeinträchtigen. Sonst wären längst
alle Betroffenen jämmerlich erstickt, ganz gleich, ob ihre Lungen
noch arbeiteten oder nicht. Der größte Sauerstoffbedarf eines
Menschen wurde über die Haut aufgenommen. Verbrennungsopfer wußten
davon ein Lied zu singen...
Nelson konsultierte den Ärztestab bei jeder sich bietenden Gelegenheit,
erhielt aber immer nur ausweichende oder vertröstende Floskeln zur
Antwort. Schnell wurde ihm klar, daß die Mediziner hilflos gegen
dieses Syndrom waren. Vollkommen hilflos.
Die Patienten, das hatten Untersuchungen gezeigt, waren die meiste Zeit
des Tages hellwach. Offenbar registrierten sie, was mit ihnen geschehen
war und was um sie herum vorging.
Das half ihnen aber nicht.
Wachkoma nannten die Ärzte das Phänomen.
Man ernährte die Betroffenen durch Schläuche, die in den Rachenraum
eingeführt wurden. Die Haut selbst hatte sich als so widerstandsfähig
erwiesen, daß herkömmlichen Nadeln abbrachen. Eine Verständigung
mit den Patienten war nicht möglich. Dennoch verbrachte Nelson jede
freie Minute neben seinem Freund.
Trotz der künstlichen Versorgung mit Nährstoffen und Flüssigkeit
verschlechterte sich der körperliche Zustand nicht nur von Goofy.
Wenn nicht bald ein entscheidender Durchbruch gelang, das war abzusehen,
würden sie alle sterben, ohne noch einmal die Gewalt über ihre
wie versteinerten Hüllen zurückgewonnen zu haben.
Am Morgen des dritten Tages hielt Nelson es nicht mehr aus. Eine vage
Idee trieb ihn zum Chef des Ärztestabs, der ihm völlig übernächtigt
zuhörte.
Und fast wider Erwarten sein Einverständnis zu Nelsons Vorschlag
gab.
"Versuch es. Es kann uns nur weiterbringen..."
*
In der Ringraumerhöhle, in der Ren Dhark einst die Point of entdeckt
hatte und aus der sie später zu ihrem Jungfernflug gestartet war,
existierte noch ein anderes großes Vermächtnis der Mysterious.
Das Mentcap-Archiv.
Mentcaps waren nur knapp einen Millimeter durchmessende, schneeweiße,
synthetische Kügelchen, in denen die Mysterious Wissen in komprimierter
Form gespeichert hatten. Nicht nur technisches, auch anderes Wissen. Allerdings
mußte man sich über Mentcaps gewonnenes Wissen durch intensive
gedankliche Auseinandersetzung damit "verdienen". Wer diese
Mühe nicht auf sich nahm, vergaß die "zugeflogenen"
Kenntnisse schon binnen weniger Tage wieder.
Nelson hatte darum gebeten, das Archiv allein betreten zu dürfen.
Dort mußte er sein Problem gedanklich darlegen. Das Archiv war nur
mental ansprechbar.
Nelson stellte sich die geflügelten Wesen noch einmal intensiv vor
und schilderte dazu, welche Symptome ihr Stich bei den Opfern ausgelöst
hatte.
Danach wartete er eine kleine Ewigkeit, in der keine der metallenen Archivscheiben
in den Auffangbehälter fiel, und er befürchtete schon, auch
hier keine Hilfe erfahren zu können.
Unerwartet wurde schließlich doch noch eine Scheibe ausgeworfen,
die über das übliche Verfahren mittels eines 19.500-Hertz-Impulses
geöffnet werden konnte. In einer kleinen Mulde der etwa fünf
Zentimeter durchmessenden Scheibenhälfte lag eine unscheinbare Mentcap.
Nelson zögerte keine Sekunde, sie zu schlucken. Ungeduldig wartete
er darauf, daß sie sich in seiner Magenflüssigkeit auflöste
und all ihr enthaltenes Wissen freisetzte.
*
Erst jagte Dschungel unter ihm dahin, dann eine Wasserwüste, dann
wieder Land...
Nelson war gar nicht mehr richtig zu sich gekommen, seit er sich den Inhalt
der Mentcap verinnerlicht hatte. Beinahe mehr noch als das erhaltene Wissen
beunruhigte ihn dabei seine eigene Reaktion: Anstatt sich mit dem Ärztestab
kurzzuschließen und ihn über den neuen Kenntnisstand zu unterrichten,
hatte er sich fast wie ein Dieb von Deluge weggeschlichen. Unter fadenscheiniger
Begründung war er mit der CC4 gestartet und hatte Kurs auf Main Island
eingeschlagen.
Niemand hatte den angeblichen Auftrag hinterfragt. Im Industriedom drehten
sich alle Gedanken momentan nur um die heimtückische Krankheit. Der
Chef des Ärzteteams würde aber schon bald feststellen, daß
sich Nelson nicht mehr in der Ringraumerhöhle aufhielt, sondern einen
Alleingang unternahm.
Bis dahin mußte der Junge, der nicht nur um seinen Freund bangte,
sondern um jeden Betroffenen der Raguun-Starre - wie die Mysterious
die Krankheit genannt hatten - sein Ziel erreicht haben: das Gebirge nahe
der ehemaligen Siedlerstadt Cattan.
*
Nachdem Nelson gelandet war, beschlich ihn ein sonderbares Gefühl:
Wie schon im Archiv, meinte er auch jetzt, daß nicht nur die Mentcap
auf ihn einwirkte. Da schien. noch ein anderer Einfluß vorhanden
zu sein...
Ein Gefühl, das sich jedoch nicht "greifen" und dementsprechend
nicht präzisieren ließ.
Zu Fuß begab er sich zu dem hinter dichter Vegetation verborgenen
Stolleneingang, den vor ihm - soviel schien sicher - noch kein Mensch
betreten hatte.
In all den Jahren nicht, und das, obwohl Cattan so nahe gewesen war.
Cattan und der Blue River. Dong-dongs "Friedhof"...
An Dong-dong dachte Nelson unentwegt. Ausgerechnet die Feuerhüpfer...
es schien so unglaublich!
Mentcaps lügen nicht! rief er sich immer wieder in Erinnerung.
Schon nach wenigen Schritten in die Tiefe des Felsenstollens kamen ihm
die ersten Feuerhüpfer entgegen.
Willkommen! signalisierten sie ihm. Wortlos - wie sie ihn hierher
befohlen hatten.
*
Das samtweiche Fell, die possierlichen Gesichter, sie alle sahen aus
wie Dong-dongs Ebenbilder.
Was sie von dem verlorenen Freund seiner Kindheit unterschied, waren die
Gürtel.
Ja, sie trugen Gürtel, an denen sich kleine, funkelnde Kristalle
befanden. Kristalle, die wie Miniaturausgaben jenes wie eine Kastanienschale
geformten Kristalls aussahen, in den sich Dong-dong bei seiner Rettungstat
verwandelt hatte...!
Nelson wußte endgültig nicht mehr, ob er wachte oder träumte,
als die Feuerhüpfer ihn in ihr unterirdisches Reich im Berg führten.
Nach einem langen Fußmarsch tat sich vor ihm eine Höhle auf,
mindestens ebenso imposant wie die Ringraumerhöhle auf Deluge, aber
völlig anders eingerichtet.
Im phosphoreszierenden Schein der Felsenwände gab es hier termitenhügelähnliche
Bauten, zwischen denen es vor Bewegung wimmelte.
Eine Stadt, schoß es Nelson durch den Sinn. Eine zweite,
nicht von Menschen erbaute Stadt auf Main Island...
Nicht ganz, korrigierten ihn Gedanken, fremde Gedanken, die sich
zwischen seine eigenen mischten. Eine Kolonie - wie eure eine war.
Und dann führten sie ihn zu dem Objekt, das alles erklärte.
Ein Wrack.
Das Wrack eines uralten Raumschiffes...
*
Kein Mensch hätte an Bord Platz gehabt. So "winzig" war
es im Vergleich zu irdischen Schiffen oder denen anderer bekannter raumfahrender
Rassen.
Ein korrodiertes Wrack, an dem erst ein Unglück, dann der unbarmherzige
Zahn der Zeit genagt hatte.
"Warum - zeigt ihr mir das alles?"
Acht, neun Feuerhüpfer umstanden Nelson, hinter dem sich die Termitenbauten
der Feuerhüpfer erhoben.
Damit du verstehst.
"Damit ich was verstehe?"
Unsere Lage.
In den nächsten Stunden erfuhr er, was die Feuerhüpfer darunter
verstanden. Warum sie sich versteckten. Heute wie seit tausend Jahren.
Die, die ihr die Mysterious nennt, kannten auch schon das Gift, mit
dem eure Leute jetzt konfrontiert wurden. Und das Schicksal wollte es,
daß sie eines Tages einen der unseren einfingen, ihn für ein
"Tier" hielten und in seinem Blut den Grundstoff für ein
wirkungsvolles Serum fanden, das als Gegengift funktioniert.
Nelson hörte sich das und alles andere wie vor den Kopf geschlagen
an.
"Woher wißt ihr, daß Menschen Opfer des Giftes wurden?"
Wir stehen in permanenter Verbindung mit dir.
"Mit mir...?"
Seit sich einer der unsrigen für euch opferte.
"Dong-dong!"
Du nanntest ihn so.
"Habt ihr mich hierhergetrieben - dafür gesorgt, daß
ich wider alle Vernunft allein gekommen bin?"
So ist es.
"Aber warum?"
Weil wir dir helfen wollen. Nur dir.
"Nur mir? Aber."
Seine Freunde sind unsere Freunde.
"Dong-dong?"
Wir leben in einer Symbiose. Wenn einer stirbt, verteilt sich sein
Geist auf alle Lebenden. Dong-dong, wie du ihn nennst, ist somit nicht
wirklich gestorben. Er ist Teil von uns geworden. Und er will dir
helfen.
Nelson spürte, wie der Boden unter seinen Füßen wankte.
Aber es war nur Einbildung.
"Wenn ihr Kontakt mit uns aufgenommen hättet, könntet ihr
wieder dorthin zurückkehren, von wo ihr einst gekommen seid."
Wir wissen nicht mehr, wo das war.
"Ihr könntet suchen."
Das wollen wir nicht. Wir sind hier zufrieden. Wenn du gehst, denk
daran.
Wenn du gehst.
"Und die Mysterious? Ihr kanntet sie? Warum habt ihr ihnen nicht
gesagt, daß ihr keine... Tiere seid?!"
Sie genossen nicht unser Vertrauen.
*
Dieser Satz hallte noch in Nelson nach, als er bereits wieder auf dem
Rückweg nach Deluge war.
Sie genossen nicht unser Vertrauen.
Wer waren die Mysterious wirklich gewesen?
Er wußte es nicht. Vielleicht wußten es nicht einmal mehr
die Bewohner des Bergesinneren, hatten es ebenso vergessen wie die Koordinaten
ihrer Heimat.
Noch von unterwegs aus instruierte Nelson den Ärztestab. Eine weitere
Mentcap würde verraten, wo fertige Seren im Industriedom gelagert
wurden.
Notfalls mußten sie selbst das Gegenmittel aus dem Blut, das die
Feuerhüpfer Nelson überlassen hatten, gewinnen.
Goofy und die anderen hatten wieder eine Hoffnung!
Und er auch.
Er war sich nicht mehr sicher, ob dies wirklich sein letztes Jahr auf
Hope sein würde - Hope, der Welt, die noch so viel Unerforschtes
bereithielt...
Ende
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